Mittwoch, 9. März 2011

We can haz protest.

Ich war kürzlich demonstrieren. Das ist deswegen bemerkenswert, weil es neben "Löten" und "Kronkorken sammeln" zu von mir eher selten verfolgten Freizeit-Aktivitäten gehört. Die Scheu vor Massenaufzügen ist im Grunde genommen in meiner Biographie angelegt: So wurde meiner Mutter in den Wehen dringend dazu geraten sich "anzustrengen", damit ich nicht "marschieren muss" jedes Jahr. Dabei war die Hebamme nicht wahnsinnig, sie war nur pragmatisch und realistisch was die Örtlichkeit und Zeit meiner Geburt angeht, die Walpurgisnacht *irgendwann* in den 80ern in Ostdeutschland. Es war klar, sollte ich am 1. Mai zur Welt kommen, würde ich Jahr ums Jahr meinen Ehrentag mit der Errungenschaften der antifaschistischen Schutzwallerbauer teilen müssen, paradierende Sprengkörper hätten mit mir um Aufmerksamkeit um den schönsten Wimpel konkurriert, insgesamt hätte ich immer alten Männern zujubeln müssen bevor der Weg zu einer mit Dosenfrüchten aus dem "Exquisit" belegten Torte frei gewesen wäre.
Jetzt darf ich Torten mit Dosenfrüchten aus dem Aldi essen und das, ohne vorher auf den Thälmann-Platz zur Wimpelschwenkerei zu müssen. Danke, Helmut Kohl, Danke Mutter.

Freiwillig die Mühen des Aufstehens, Losgehens, Rumstehens, Gesehen werdens mit Menschen, die wahrscheinlich das eigene Anliegen teilen aber in Kleidung, Haarpracht, Schuhwerk und der Durchtdachtheit zu äußernder Parolen *bevor* sie den Kopf akustisch hörbar verlassen eventuell gänzlich andere Geschmackspositionen verteten: Dazu braucht es dann bei mir schon Motivation. Bezeichnederweise stammt diese in meiner gesamten Demonstrationsgeschichte in Empörung über Ungerechtigkeiten in der akademischen Welt. Dazu zähle ich zum Einen den Protest gegen Studiengebühren in Berlin 2004. Und es war die Demonstration gegen die Unwürdigkeit der Vertretung eines Bundesministeramts durch jemanden, der seine Doktorarbeit in großen Teilen abgeschrieben und sie als sein eigenes Werk ausgegeben hat.

Ich weiß nicht, warum ausgerechnet diese Themen bei mir für ein Protestpotenzial sorgen, dass sich einlöst ins Rausgehen und Gesicht zeigen. Als ich auf der Demonstration einen Freund treffe, der für eine Berliner Tageszeitung berichtet, entblöde ich mich nicht zu sagen (und werde damit auch noch zitiert), dass ein Krieg in Afghanistan mich nicht zum Protestieren bringt, sehr wohl aber diese Dissertationslüge. "Wozu habe ich denn die letzten 6 Monate an meiner Magisterarbeit gesessen? Geflucht, wenn draußen die Sonne schien, alle rausgingen und ich es nicht konnte weil ich das mit meinem Pensum nicht vereinbaren konnte?"

Vom larmoyanten Ton des chronischen overachievers und der moralischen Fragwürdigkeit ihres ins-Verhältnis-zu-Kriegen-setzen mal abgesehen: Die Dissertationslüge regt mich deswegen so auf, weil sie an eine Grundfeste der Überzeugung rührt, die mir Lehrer, Eltern, Professoren jahrzehntelang offenbar erfolgreich einredeten: Jeder Erfolg muss erarbeitet werden. Abkürzungen sind Selbstbetrug. Unaufrichtigkeit im Kleinen wird Unaufrichtigkeit im Großen. Irgendwer muss anfangen, gerade zu laufen, sonst merken die anderen nicht, wie schief sie selbst sind.

Es ist himmelschreiend naiv, es ist sehr wahrscheinlich unrealistisch, es ist ein Mythos. Aber ich bin nicht bereit, vielleicht noch nicht bereit, ihn aufzugeben gegen die zynische Einsicht, dass Nepotismus und Bestechlichkeit noch jedes Weltenrad mehr gedreht haben als das akademische Ideal von intersubjektiv nachvollziehbarer, im Rahmen des Möglichen selbstständig und unabhängig erarbeiteter Erkenntnis.

Es sind hohe Erwartungen und die Grenze zur Selbstgerechtigkeit in der Äußerung dieser wird auf der Demo überschritten mit Plakaten, auf denen "Erst Gaddafi, dann Guttenberg!"steht. Dennoch sind die Eiferer in der Minderheit. Die Masse an Demonstranten ist zwar hart in der Sache, aber locker im Gestus und im Fall einer Bekannten, die ich treffe über die farbliche Koordination von Sonnenbrille und mitgebrachten Protestschuh ein Plädoyer für Stringenz und Konsequenz auch in modischer Hinsicht.

Bevor ich mich noch mehr als entpolirisierten, aber moralisch noch erregbaren Ossi mit Vorliebe für Dosenobst und Fashionkritikerin für Demonstrationen entlarvte: Da bin ich auf dieser Demo mit diesen ganzen linken Socken und nicht einer von ihnen erkennt mit mir Klaus Staeck. Liebe Facebook-Revoluzzer: Kennt eure Vorfahren! Kennt ihre crazy analogen *memes*.