Donnerstag, 2. Juni 2011

Alles muss raus.

Der Vorteil meiner ersten Festanstellung ist, damit endlich ins Privileg einer Krankenversicherung ganz und allein auf meinen Namen zu kommen. Ich sage nicht, dass es an die Grenzen mentaler Belastbarkeit geht, mit 28 noch jede seiner Arztrechnungen an seinen Vater zu schicken, der somit stetig aber gewiss eine profundere Kenntnis deiner Organ- und Zahnkondition erhält als du selbst. Ich sage nur, dass es irgendwie auch Freude macht, seinem Arzt keine Fantasiebezeichnungen mehr für Verschreibungen und Untersuchungen mehr in den Block diktieren zu müssen (ich sage nur „hormonelle Anpassung“, und ich weiss, es werden Frauen wissend nicken) um sich einen Hauch dessen zu sichern, was andere mit 18 erhalten: Das Recht auf Privatsphäre.

Jedenfalls war es mir ein innerer Vorbeimarsch meine brandneue, marineblaue Versichertenkarte der munter auf mich einplaudernden Sprechstundenhilfe über den Tresen zu schieben, als ich letzte Woche nach 3 Tagen Bauchkrämpfen entschieden hatte, es sei Zeit für eine zweite Meinung nach Freund Google. Es ist, nebenbei gemerkt, schon an und für sich nicht wirklich eine gute Idee seine Symptome einer Suchmaschine anzuvertrauen, die einem dann, dem Schwarm sei Dank, mit mehr als 5000 möglichen, in Herkunft diversen, aber stets relativ wahrscheinlich tödlich verlaufenden Krankheiten diagnostiziert. Kommt der Bonuslevel „grassierender Virus in deiner Nähe“ gekreuzt mit der Hysteriequadratierung „deutsche Medienberichterstattung“ dazu, ist es nur eine Frage der Zeit, bis Helmut Markworts elektronischer Friedhof per Targeting anfragt, ob du nicht mal ein schönes Plätzchen neben Jopi Heesters reservieren möchtest.

Der Arzt sieht mich an, ich schildere ihm meine Vorgeschichte zum Thema „Bauchweh“, die das Entfernen der Galle mit Anfang 20 (eine schöne Kombination aus genetischer Prädisposition und der Unfähigkeit, Stress als etwas anderes als Unfähigkeit zu verstehen, was in mehr Stress mündet, ein perpetuum mobile der psychischen Selbstkasteiung) und eine endoskopische Entfernung neuerlich gebildeter Steine im letzten Sommer umfasst. Weil ich keine Lust mehr habe, noch eine Notaufnahme kennenzulernen und sowieso wahrscheinlich nichts mit dem Wartezimmer des Vivantes Friedrichshain, wo zur Ablenkung gramgebeugter Patienten nicht die BUNTE sondern Broschüren über tödlich verlaufende Motorradunfälle ausliegen (ob die Motorradunfallbroschürenbranche jemals gedacht hat: „Hach, Kranke Menschen! Sie gehen sicherlich gerne Risiken ein wie auf 2 Rädern ungeschützt mit Motorenkraft sich den Launen von Menschen geschützt in Fahrzeugkarosserien auszusetzen! Streuverlust ade!“) mithalten kann, gehe ich jetzt lieber eher zum Arzt als auf den Status „nicht mehr aufrecht stehen können“ zu warten.

Der Arzt nickt verständnisvoll. Dann meint er: „Ich werde gleich einen Schnelltest mit ihrem Blut machen. Da sehen wir, wie sich die weissen Blutkörperchen verhalten und ob das alles im Rahmen ist.“. Ich nicke und freue mich, so schnell Gewissheit zu kriegen. Der Arzt sagt: „Ich kann ihnen in 5 Minuten Bescheid geben.“ Ich nicke nochmal, halte mit einer Hand den Bauch und mit der anderen einen ehrlich gemeinten Daumen Hoch-Daumen hoch. Er fügt hinzu „Wissen Sie: Dieser Test...damit mache ich gar keine Gewinnmarge. Es ist wirklich so, dass ich daran fast gar nichts verdiene, so aufwändig ist das. Aber ich machs eben trotzdem.“. Ich nicke automatisch. Innerlich denke ich, dass das das erste Mal ist, dass ich einen Arzt das Wort „Gewinnmarge“ hab sagen hören. Was kommt denn als nächstes? Preisschilder an meinen Organen? Sehe vor meinem inneren Auge Schilder in der Praxis „Angebote der Woche: Lebertest.“, „Im Dutzend Billiger: Einläufe: 500 CHF, 200 CHF Selbstbehalt“.

Es ist nicht so, dass sowas dir nur in Zürich passieren kann. Es ist nur so, dass es mir gerade nur in Zürich passiert ist.

Genauso, wie ich nur hier ständig höre und lese „Alles richtig gemacht.“, die schulterklopfende Selbstvergewisserung von Deutschen gegenüber Deutschen, die sich gegenseitig gratulieren zu Wochenendreisen im Tessin oder „billig zu schießender“ Heimelektronik hinter der Grenze. Ich denke: Das Betonen des Richtigmachens trägt die Verteidigung in sich. Wogegen in aller Welt denn nur? Wer oder was hat denn jemals unterstellt, was „falsch“ gemacht zu haben? Und impliziert das Betonen, man selbst mache es „richtig“ eben alle anderen machten was „falsch“? Ist eine Existenz, die ihre Güte nicht an Nettogehalt und der Menge und dem Alter erworbener Waren misst, eine „Falsche“? In wessen Buch denn? Und muss das das Buch aller anderen sein? Und ist andererseits Leben überhaupt was anderes als das Abhaken von Listen in einem Buch, von dem man bestenfalls ein paar Seiten selbst schreibt während man den Rest per Elternhaus geliefert kriegt? Und soll man deswegen gleich ganz aufhören, die Bücher wegschmeissen zu wollen? Und wie und wann hat diese Metapher aufgehört, stringent zu sein?

Die Nichtvoraussetzungsfähigkeit eigener Werte, die blitzt mich hier bisweilen aus so mancher Ecke an. Sie beginnt da, wo eine Mitbewohnerin das streifenfreie Reinigen von Zahnputzbechern (und zwar der sämtlicher Wohnungsbewohner) als Teil des wöchentlichen „Putzämtlis“ zur Bedingung der Zuschreibung von Zurechnungs- und Mitwohnfähigkeit macht. Diese Abweichung sich ab und an bewusst zu machen, bewusst gemacht zu kriegen: Das ist der Kern der Fremdheit.

Aus unterhaltungstechnischer Sicht muss ich sagen, ich hätte einfach mit den Einläufen im Dutzend billiger aufhören sollen.



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